Fachvortrag: Mediensucht kann Entwicklungsförderung zunichtemachen
Augsburg, 13.11.2020 (pca). Zwei Mal hatte die Veranstaltung verschoben werden müssen, im dritten Anlauf konnte der Fachvortrag zum Thema "Autismus und Mediensucht" zwischenzeitlich stattfinden - natürlich Corona konform mit begrenzter Teilnehmerzahl, mit großem Abstand und Mund-Nasen-Schutz für das Publikum. Eingeladen hatte das Kompetenzzentrum Autismus Schwaben-Nord des Diözesan-Caritasverbandes Augsburg. Das Zentrum versteht sich als Beratungs- und Koordinierungsstelle, bietet aber keine Therapie an.
Die Fachreferentin Susanne Maròthy-Keller hat sich in ihrer Münchner Praxis auf Menschen mit
Susanne Maròthy-Keller machte in ihrem Vortrag eindrücklich auf die besonderen Gefahren der Mediensucht bei Menschen mit einer Autismus-Spektrumsstörung aufmerksam.Diana Riske
Autismus spezialisiert und dabei beobachtet, dass immer mehr ihrer Patient*innen unter Mediensucht leiden. "Mein Kind ist verschwunden" - so hat es eine Mutter formuliert, deren Sohn die ganze Nacht hindurch vor dem Computer sitzt und spielt. Bei Jugendlichen führe das dann z.B. dazu, dass sie eine Ausbildung gar nicht erst anfangen, weil sie es nicht schaffen, morgens pünktlich am Arbeitsplatz zu erscheinen. Auch das Familienleben leidet: Mahlzeiten werden vor dem Computer eingenommen, um in der virtuellen Spielewelt nichts zu verpassen. Selbst die Zeit, die sie zum Haare waschen oder Duschen bräuchten, brächten manche Patient*innen nicht mehr auf, die fehlende Bewegung führe mitunter zu starkem Übergewicht. "Ich erlebe Verzweiflung und Angst ohne Ende", fasst Maròthy-Keller die Schilderungen betroffener Eltern zusammen. Wenn die Patient*innen selbst das Problem nicht sehen, sei eine Therapie kaum möglich. In ihre Praxis kommen aber auch Jugendliche, denen ihre schlechten Noten bewusst sind, die Angst haben, wie es weitergeht und sich für ihre Sucht schämen. Maròthy-Keller: "Es gibt unglaublich viel Leid auf beiden Seiten."
Ähnlich wie eine Sucht geht auch Autismus mit bestimmten Begleiterscheinungen wie Angststörungen, Depression oder Zwängen einher. Die Neigung zu Zwängen führt bei autistischen Menschen dazu, dass sie das Computerspielen nicht mehr als lustvoll, sondern als "Last und Leid" erlebten, so Maròthy-Keller. Besser als jede Therapie ist ihrer Ansicht nach die Prävention - und zwar unabhängig davon, ob ein Kind Autismus hat oder nicht. Darum rät sie Eltern, Kinder so lange wie möglich von Bildschirmmedien fernzuhalten, nicht mit Medien zu belohnen oder zu bestrafen und das Kinderzimmer frei von Bildschirmen zu halten. Stattdessen sollten Eltern ihren Kindern Sinneserfahrungen in der Natur und körperliche Aktivitäten ermöglichen, sie dabei unterstützen, Langeweile auszuhalten und Bedürfnisse aufzuschieben, statt diesen immer sofort nachzugeben. Da diese Empfehlungen bei Autist*innen schwer umzusetzen seien, rät die Therapeutin, sich bestimmte Eigenschaften autistischer Kinder zunutze zu machen wie ihre Vorliebe für Gewohnheiten und Rituale und z.B. einen festen Schwimm- oder Kochtag einzuführen.
Eine Computersucht mache bei autistischen Kindern und Jugendlichen viel an Entwicklungsförderung zunichte: "Das ist unglaublich tragisch", so die Referentin, da die Familien häufig bereits viel Energie investiert hätten. Manche Begleiterscheinungen einer autistischen Störung begünstigen eine Sucht, etwa die Neigung zu Wiederholungen oder die mangelnde Impulskontrolle. Häufig beginnen autistische Kinder oder Jugendliche mit Computerspielen, um ihren Selbstwert zu steigern, oder - wie ein junger Patient es beschreibt - "endlich kein Opfer mehr, sondern Held zu sein". Viele erleben schon im Kindergarten und später in der Schule täglich Frustration - sie werden gemobbt, gehänselt oder missverstanden. Dem können Eltern, Therapeut*innen und Lehrer*innen entgegenwirken. Zu den Förderbereichen bei Autismus zählen z.B. das Energiemanagement, die Wahrnehmungsförderung, die Gefühlsregulierung oder die Förderung sozialer Fähigkeiten - damit Kinder und Jugendliche mit einer autistischen Störung mehr positive "real life"-Kontakte haben und nicht auf virtuelle Freunde angewiesen sind