Augsburg, 07,07.2011 (
pca
). Tom (Name geändert), 12, wird von seiner Mutter von
der Schule abgeholt. Für ihn ist das alles andere als schön. Es bedeutet für
ihn Stress. Sorgen rattern durch sein Gehirn. Was ist los heute? Warum tut sie
mir das nur an? Er geht zu seiner Mutter. Verschämt. „Nur weg hier!“ Toms
Mutter hält eine Bierflasche in der Hand. Sie ist betrunken. Nicht sie bringt
ihren Sohn nach Hause. Tom bringt
sie
nach Hause.
Tom lebt in Augsburg. Er zählt nach
aktuellen Untersuchungen zu den 2,65 Millionen Kinder und Jugendliche im Alter
bis zu 18 Jahren, die zeitweise oder während der ganzen Kindheit und Jugend von
der Suchtabhängigkeit ihrer Eltern oder eines Elternteils betroffen. Mit
oftmals schwerwiegenden Folgen. Viele von ihnen entwickeln als Erwachsene
selbst schwere Verhaltensprobleme, werden suchtkrank oder leiden an anderen
psychischen Störungen.
Für Betroffene und erwachsene
Angehörige von Suchtkranken gibt es viele Beratungs-, Behandlungs- und
Therapie-Angebote: Für Kinder gibt es fast nichts. Der Caritasverband für die
Diözese Augsburg hat darauf reagiert. Im Rahmen des
HaLT-Projekts
besteht deshalb seit Februar dieses Jahres das Projekt einer „Gruppe für Kinder
aus suchtbelasteten Familien“. Geleitet wird es von der Diplom-Sozialpädagogin
Christiane Kling und der Heilpädagogin Marion Freitag. Vier Kinder, zwei
Mädchen und zwei Jungs zwischen zehn und 14 Jahren alt, machen derzeit mit.
Einmal pro Woche treffen sie sich für rund 100 Minuten.
„Kinder tun sich wahnsinnig schwer
mit der Sucht der Mama oder des Papas“, sagt Kling. „Sie klammern sich an das
Wunschbild einer heilen Familie, in der Mama und Papa eigentlich die tollsten
Eltern für sie sind.“ Und gleichzeitig wüssten die Kinder ganz genau, dass ihre
Welt nicht heil ist. Obwohl selbst dafür nicht verantwortlich, fühlen sie sich
dafür verantwortlich. So ertragen sie geduldig, dass Mama oder Papa den Rausch
auf der Couch ausschläft, schlecht gelaunt ist oder den ganzen Nachmittag nur
schimpft. Sie putzen das Erbrochene weg, kümmern sie um ihre kleinen
Geschwister und bereiten Essen für sie zu. Sie müssen ständig „funktionieren“.
„Kinder sind aber mit dieser Situation völlig überfordert“, sagt die
Heilpädagogin Freitag.
Der Ausweg für diese Kinder ist
eine Flucht in eine Rolle, zum Beispiel in die des „Clowns“, der ständig lustig
ist. Andere mimen den „Helden“ bzw. die „Heldin“. Einkäufe werden bestimmt und
erledigt, der Haushalt und das Umfeld gemanagt. Der „Sündenbock“ lädt alle
Schuld auf sich und meint, der Fehler bei ihnen selbst liege, warum Mama oder
Papa ständig betrunken ist. Das „verlorene Kind“ zieht sich in sich selbst
zurück und verhält sich möglichst unauffällig. Es möchte auf keinen Fall
irgendeinen Ärger zusätzlich auslösen. Die Rollen sind nicht klar abgegrenzt.
Je nach Situation schlüpfen die Kinder suchtkranker Eltern von der einen Rolle
in die andere. Die Kinder werden damit nicht fertig. Sie reagieren mitunter
aggressiv. Leistungseinbrüche in der Schule sind typisch dafür.
Über die Beratungsstellen,
Betroffene, Eltern, die eine Unterstützung für ihre Kinder wünschen, die Schule
oder das Jugendamt erfahren Kling und Freitag, wo ein Kind Hilfe braucht und wo
die Möglichkeit besteht, es in das Caritas-Projekt einzuladen. Am Anfang steht
zunächst ein Erstgespräch mit dem Kind zum Kennenlernen. Kindgerecht sprechen
dabei Kling und Freitag über die Suchtproblematik und ihre Folgen auch für das
Kind selbst.
Wenn die Kinder dann in der Gruppe
zusammenkommen, „herrscht zunächst einmal wilder Radau“. „Sie raufen, sind
völlig aufgedreht und machen manchmal einen höllischen Lärm“, erzählt Freitag.
Das sei gut so, denn die Kinder müssten schließlich zunächst einmal ihren
inneren Stau „nachkompensieren“, „ihr Kindsein endlich einmal ausleben können“.
Bewegung ist für Kling und Freitag der beste Ansatz, um mit den Kindern
wirklich ins Gespräch zu kommen. Aktionen würden Bewegung auch in ihrem Inneren
auslösen. „Dann erst fangen sie an zu erzählen, was sie bedrückt.“ So kochen
sie gemeinsam, malen, erleben den „Parcours der Sinne“, besuchen die
Stadtbücherei und machen Ausflüge.
Es sind ganz normale Dinge, die Kinder in dem Projekt erfahren können sollen. „Verlässlichkeit“, „dass sie nicht für alles verantwortlich sind und sich auch abgrenzen können müssen“, „dass sie nicht schuld an der Sucht ihrer Eltern sind“, „dass sie Spaß und Freude erleben dürfen und ein Anrecht darauf haben“. Kling spricht auch von „Selbstwertgefühl“ und „Selbstwirksamkeit“. „Nur so können die Kinder eine psychische Widerstandsfähigkeit und Robustheit erlangen“, so Kling.