Das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat Mängel
Seit Jahren hat der Europäische Rat betont, dass bis 2012 ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) eingerichtet sein solle. "Bausteine" hierfür sind im Wesentlichen zwei Institutionen, zwei Verordnungen und vier Richtlinien.1 Den Zeitplan hat man nicht ganz eingehalten: Einige Texte wurden erst 2013 endgültig verabschiedet.
Die Institutionen: EASO und Frontex
Das Europäische Asylunterstützungsbüro (EASO) wurde 2010 aus der Taufe gehoben, erhielt allerdings erst im Sommer 2011 sein Hauptquartier in Valletta (Malta). Derzeit konzentriert sich EASO auf die Unterstützung der griechischen Behörden, Trainingsmaßnahmen für nationale Asylbeamte, die Ausarbeitung gemeinsamer Berichte zu Herkunftsländern (bislang zwei zu Afghanistan) sowie die Koordination in Fällen unbegleiteter Minderjähriger und von Menschenhandelsopfern.
Frontex ist die "Grenzschutzagentur" der EU. Sie soll die gemeinsamen Operationen von nationalen Grenzschutzbehörden koordinieren und diese Behörden technisch und personell unterstützen. Dazu gehört inzwischen die Organisation gemeinsamer Abschiebungsflüge. Eine weitere Aufgabe ist die Analyse der "Migrationsströme". Die Agentur organisiert darüber hinaus die Kooperation mit Drittstaaten. Geregelt wird ihre Arbeit durch eine Verordnung, deren Neufassung2 die Agentur unter anderem zur Entwicklung einer Menschenrechtsstrategie verpflichtete. Auch hat Frontex seit dem 15. Dezember 2012 eine Menschenrechtsbeauftragte, die spanische Rechtsanwältin Inmaculada Arnaez Fernandez.
Die Menschenrechte an den Außengrenzen der EU
Ende 2012 wurde ein Forum zur Konsultation in Menschenrechtsfragen gegründet. Es setzt sich zusammen aus Vertretern zweier EU-Agenturen (der Europäischen Grundrechteagentur und von EASO), mehrerer zwischenstaatlicher Organisationen3 und von neun Nichtregierungsorganisationen4. Das Forum kann nur nicht bindende Empfehlungen aussprechen.
Gleichwohl haben sich die Mitglieder vorgenommen, intensiv an der Verbesserung der Menschenrechtslage für Flüchtlinge an den Außengrenzen zu arbeiten. Dafür hat das Forum vier Schwerpunkte gewählt: Es will Vorschläge für Mechanismen entwickeln, die sicherstellen, dass im Rahmen von gemeinsamen Grenzschutzoperationen aufgegriffene Schutzsuchende Zugang zu fairen Asylverfahren erhalten. Weitere Vorschläge betreffen einen Verhaltenskodex für Beamte, die an gemeinsamen Abschiebungsoperationen teilnehmen. Der dritte Bereich ist die Entwicklung menschenrechtlicher Elemente bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten. Und schließlich will das Forum Menschenrechtsfragen in die Risikoanalyse durch Frontex einbringen.
Kompetenzen sind unklar
Menschenrechtsbeauftragte und Konsultativforum können allerdings nicht die fundamentalen Probleme bei der Tätigkeit der Grenzschutzagentur lösen: Die unklare Kompetenzverteilung zwischen Frontex und den Mitgliedstaaten erlaubt es jeder Seite, sich bei Kritik hinter der jeweils anderen Seite zu verstecken. Wer "haftbar" gemacht werden kann, wenn es bei Grenzschutzoperationen zu Menschenrechtsverletzungen kommt, ist nicht vollständig geklärt. Hinzu kommt, dass es keine klaren Beschwerdemöglichkeiten für Migranten gegen ihre Abweisung an den Grenzen gibt. Auch die katastrophale Situation in Drittstaaten, in die Migranten zurückgeschoben werden, spielt derzeit bei der Frontex-Arbeit kaum eine Rolle. Und schließlich gibt es derzeit keine Mechanismen, die verlässlich sicherstellen, dass Schutzbedürftige erkannt werden und Schutz erhalten.
Die Verordnungen: Dublin und Eurodac
Die "Dublin-II-Verordnung"5 legt fest, welcher EU-Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sein soll. Praktisch ist es vor allem derjenige Staat, über dessen Außengrenze der Asylsuchende in das EU-Gebiet gekommen ist.
Unter schweren juristischen Beschuss geriet die Dublin-II-Verordnung, als im Falle Griechenlands deutlich wurde, dass eine der wichtigsten Prämissen nicht mehr haltbar war: Das "Dublin-System" beruhte auf der Annahme, dass alle Mitgliedstaaten der EU Asylantragstellern ein faires Verfahren und menschenwürdige Lebensbedingungen gewähren würden. Diese Annahme war mit dem "Asylkompromiss" von 1992/93 in Deutschland sogar als nicht widerlegbare "normative Vergewisserung"6 ausgestaltet worden, die den Gerichten die Möglichkeit nahm, Dublin-Abschiebungen auszusetzen.
Abschiebung in Dublin-Staat - Zustände dort sind zu prüfen
Die katastrophale Situation in Griechenland führte jedoch zu zwei Entscheidungen der höchsten europäischen Gerichte, bei denen es um die Vereinbarkeit von Dublin-Abschiebungen nach Griechenland mit europäischen Standards ging.7 Die wichtigste Konsequenz aus ihnen ist, dass eine Behörde, die einen Asylsuchenden in einen anderen Dublin-Staat abschieben will, nicht blind darauf vertrauen darf, im Zielstaat werde schon alles in Ordnung sein. Stattdessen muss sie einem Vorbringen des Asylsuchenden und/oder Berichten über die Lage im Zielstaat nachgehen und die Zurückschiebung unterlassen, wenn diese bedeuten würde, den Asylsuchenden der Gefahr von Menschenrechtsverletzungen auszusetzen. Es gilt somit die Regelvermutung, dass alle Mitgliedstaaten Asylsuchende "ordentlich" behandeln. Diese Regelvermutung ist allerdings im Einzelfall widerlegbar.
Der Druck aus der Rechtsprechung auf die Politik hat dazu geführt, dass die Europäische Kommission den Vorschlag für eine Neufassung der Dublin-Verordnung auf den Tisch legte. Der endgültige Text ("Dublin III") wurde Mitte 2013 verabschiedet.
Dabei sind einige Punkte positiv hervorzuheben: So wird anerkannt, dass in Mitgliedstaaten Situationen eintreten können, die Rücküberstellungen dorthin menschenrechtswidrig werden lassen. In diesem Fall geht die Verantwortung für den Fall auf den Staat über, in dem der Asylantrag gestellt worden ist, wenn nicht noch ein anderer zuständiger Staat gefunden werden kann. Gegen eine Überstellungsentscheidung muss effektiver Rechtsschutz gewährt werden. Das erzwingt in Deutschland eine Änderung des Asylverfahrensgesetzes.
Minderjährige Flüchtlinge werden besser geschützt
Die Rechtsstellung von Minderjährigen wird gestärkt: Der Vorrang des Kindeswohls wird festgeschrieben, dem Kind ist eine qualifizierte Vertretung (auch als Verfahrensbeistand) beizuordnen. Familienzusammenführung ist auch zu einem minderjährigen Geschwister möglich. Lassen sich für ein unbegleitetes Kind keine Verwandten im Dublin-Gebiet feststellen, ist der Mitgliedstaat des Erstantrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Negativ zu beurteilen ist allerdings, dass das Grundproblem der Dublin-Verordnung nicht angegangen wird: Asylsuchende werden weiterhin europaweit verteilt und verschickt, ohne dass es wirklich einheitliche Regelungen über den Flüchtlingsbegriff, effektive Standards für das Asylverfahren und für die Aufnahmebedingungen gäbe. Auch ist die Reaktion auf katastrophale Situationen wie in Griechenland bestenfalls unzureichend: Für Krisensituationen in einem Mitgliedstaat wird zwar ein Frühwarnsystem mit Krisenmanagement eingeführt. Die entsprechenden Regelungen sind aber vage formuliert. Ein Mechanismus, der zu einer automatischen Aussetzung von Überstellungen geführt hätte, ist nicht vorgesehen.
Die Eurodac-Verordnung8 regelt vor allem die Arbeitsweise der Datenbank, in der Fingerabdrücke von Asylsuchenden und irregulär Eingereisten gespeichert werden. Sie spielt bei Dublin-Verfahren eine große Rolle, weil "Eurodac-Treffer", d.h. Meldungen über die Übereinstimmung mit bereits gespeicherten Fingerabdrücken, als Beweis für die Anwesenheit des betroffenen Menschen in einem anderen Mitgliedstaat gelten. Der neue Text dieser Verordnung, sieht vor, dass Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden Zugriff auf die Eurodac-Daten haben sollen. Bedenken vieler Datenschutzbeauftragter wurden damit vom Tisch gewischt.
Die Richtlinien zum Flüchtlingsbegriff
Von großer praktischer Bedeutung ist die Richtlinie über den Flüchtlingsbegriff ("Qualifikationsrichtlinie"). Diese ist in neuer Fassung Ende 2011 verabschiedet worden9 und harrt noch der vollständigen Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber. Zu den wichtigen Änderungen gegenüber der vorherigen Fassung gehört, dass der Status der "subsidiär" Geschützten aufgewertet wird: Diese haben nun im Wesentlichen dieselben Rechte wie als Verfolgte anerkannte Flüchtlinge.
Weitere Änderungen betreffen das materielle Flüchtlingsrecht: So wird die Möglichkeit etwas eingeschränkt, auf den Schutz durch Akteure im Herkunftsland oder darauf zu verweisen, man könne doch in einem anderen Teil des Herkunftslandes Schutz vor Verfolgeung finden. Fehlender oder verweigerter Schutz steht der aktiven Verfolgung gleich. Bei den Verfolgungsgründen müssen geschlechtsbezogene Aspekte einschließlich der sexuellen Identität berücksichtigt werden.
Eine Neufassung der Aufnahmerichtlinie mit Normen für die Unterbringung und Versorgung von Asylsuchenden wurde im Juni 2013 verabschiedet, für Deutschland sind wesentlich nur die Verkürzung des absoluten Arbeitsverbots für Asylsuchende auf neun Monate (danach gilt aber weiterhin der Nachrangigkeitsgrundsatz) und einige Regelungen für besonders Schutzbedürftige (vor allem über die Einführung eines Screening-Verfahrens).
Bedürfnisse von Folteropfern werden stärker berücksichtigt
Die ebenfalls im Juni 2013 verabschiedete Neufassung der Asylverfahrensrichtlinie soll die nationalen Asylverfahren stärker vereinheitlichen. So werden die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, Schutzbegehren zu bearbeiten, die in ihren territorialen Gewässern und an Grenzübergängen geltend gemacht werden. Auch ist eine stärkere Berücksichtigung der spezifischen Bedürfnisse von Folteropfern und anderen vulnerablen Personen vorgesehen. Zur Feststellung ihrer Vulnerabilität sind Asylsuchende frühzeitig medizinisch zu untersuchen. Außerdem werden Höchstfristen zur Bearbeitung von Asylanträgen in der Verwaltungsinstanz eingeführt (Regelfall sechs Monate; bei bestimmten Ausnahmen bis zu 18 Monate). Ist die Situation im Herkunftsland instabil, kann das Asylverfahren ausgesetzt werden; es muss aber in jedem Fall bei Ablauf von 21 Monaten in der Verwaltungsinstanz abgeschlossen sein. In der Anhörung müssen Asylsuchende auf Widersprüchlichkeiten und Lücken hingewiesen werden und diese korrigieren können.
Abschiebungshaft im Normalvollzug ist rechtswidrig
Abschließend ist die Rückführungsrichtlinie10 anzuführen. Ihre Umsetzung ist zwar mit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes in Deutschland angeblich erfolgt, tatsächlich gibt es aber noch Lücken. Dabei geht es vor allem um die Abschiebungshaft. So legt die Richtlinie den Mitgliedstaaten die Pflicht auf, vorrangig Alternativen zur Abschiebungshaft einzusetzen, die weniger stark in die Freiheitsrechte der Betroffenen eingreifen. Dies greift das Aufenthaltsgesetz insoweit auf, als dass Abschiebungshaft unzulässig ist, wenn ein anderes, milderes Mittel zur Verfügung steht. Allerdings hat es der Gesetzgeber versäumt, konkrete Möglichkeiten (Kautionsstellung, Meldeauflagen oder dergleichen) vorzusehen, um die Haft zu vermeiden. Hier ist noch konzeptionelle Arbeit erforderlich.
Ein weiterer Punkt betrifft den Vollzug der Abschiebungshaft in Strafvollzugseinrichtungen: Nach der Rückführungsrichtlinie muss Abschiebungshaft in eigenen Einrichtungen vollzogen werden. Die Unterbringung kann nur ausnahmsweise in gewöhnlichen Hafteinrichtungen erfolgen, wenn dem gesamten Mitgliedstaat keine speziellen Einrichtungen zur Verfügung stehen. Da es in Deutschland mehrere spezielle Einrichtungen für den Vollzug der Abschiebungshaft (etwa Berlin-Köpenick) gibt, dürfte sie eigentlich nicht mehr in gewöhnlichen Justizvollzugsanstalten vollstreckt werden. Ebenso reichen gesonderte Trakte innerhalb von Justizvollzugsanstalten nicht aus. Abschiebungsgefangene müssen von allen anderen Häftlingen gesondert untergebracht werden. Dahinter steht die klare Erkenntnis, dass Abschiebungshäftlinge nicht wie Straftäter behandelt und nicht den Strafvollzugsregelungen unterworfen werden dürfen. Die Bedingungen der Abschiebungshaft müssen so gestaltet sein, dass sie den geringstmöglichen Eingriff in die Rechte der Häftlinge darstellen. Dies ist mit der bloßen Unterbringung in eigenen Gebäudeteilen, wie sie etwa in der Justizvollzugsanstalt (JVA) München-Stadelheim praktiziert wird, nicht gewährleistet. Es besteht also noch erheblicher Änderungsbedarf in der Vollzugspraxis.
Es gibt keine wirkliche Rechtssicherheit
Eine wirkliche Harmonisierung des Asylrechts mit der Folge, dass überall in Europa alle Flüchtlinge effektiven Schutz genössen, ist mit dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem nicht erreicht worden. Die Schutzquoten in den einzelnen Mitgliedstaaten weichen immer noch so stark voneinander ab, dass die gleiche Verfolgungs- und Fluchtgeschichte in einem Staat zur Anerkennung als Flüchtling führen kann und im anderen zur Ablehnung des Asylantrages. Außerdem gibt es weiterhin keine Mechanismen, die sicherstellen, dass Schutzsuchende auch an den Außengrenzen zu fairen Asylverfahren Zugang erhalten.
Kirchen haben Anwaltsfunktion für Flüchtlinge
Das nicht sonderlich erfreuliche Ergebnis darf aber nicht dazu verführen, die Arbeit aufzugeben. Im Gegenteil: Die gesellschaftlichen Akteure, die sich für Flüchtlinge einsetzen, namentlich Kirchen und Nichtregierungsorganisationen, müssen ihren Druck auf die Entscheidungsträger in Politik und Verwaltung - auf nationaler wie EU-Ebene! - aufrechterhalten und verstärken.
Anmerkungen
1. Verordnungen sind europäische Rechtsakte, die unmittelbar Anwendung finden, ohne dafür in nationales Recht übertragen werden zu müssen. Richtlinien dagegen bedürfen im Wesentlichen zu ihrer Anwendbarkeit der Übertragung in nationales Recht.
2. Verordnung (EU) Nr. 1168/2011 vom 25.Oktober 2011.
3. Europarat, IOM, OSZE und UNHCR
4. Amnesty International, Caritas Europa, Churches‘ Commission for Migrants in Europe, European Council for Refugees and Exiles, International Catholic Migration Commission, International Commission of Jurists, Jesuiten-Flüchtlingsdienst Europa, Platform for International Cooperation on Undocumented Migrants und das Europabüro des Roten Kreuzes.
5. Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18. Februar 2003.
6. So die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, siehe BVerfGE 94, 49 [95 f.]
7. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 21.Januar 2011, 30696/09, M.S.S. gegen Belgien und Griechenland, und Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 21. Dezember .2011, C-411/10 u. C-493/10, N.S.[Vereinigtes Königreich] sowie M.E. u.a. [Irland]. Deutscher Wortlaut beider Urteile unter anderem auf www.asyl.net
8. Verordnung 2725/2000 vom 11. Dezember 2000.
9. Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011.
10. Richtlinie 2008/113/EG vom 16. Dezember 2008.