Ist Deutschland erschöpft? Und wenn ja: Was kann jeder und jede tun?
Interview mit Dr. Stefan Scholand, seit 2017 Chefarzt der Clemens-August-Klinik in Neuenkirchen-Vörden (Landkreis Vechta), einer Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin für Erwachsene mit 132 Betten.
Die ‚Rheingold-Studie‘ hat den Deutschen kürzlich die Diagnose ‚Erschöpfung‘ attestiert. Corona, die Umwelt, der Krieg: Eine Mega-Krise überlagert die andere. Dr. Scholand, spüren sie die Erschöpfung bei Ihren Patienten auch?
Das Interessante an unseren Patienten ist, dass wir seit Beginn der Pandemie bis heute keine starke Veränderung an ihnen merken. Bei einzelnen wohl, aber nicht im Gesamt.
Im Bereich der Mitarbeitenden ist das anders: Bei den Gesprächen am Mittagstisch haben die Themen gewechselt. Da wird deutlich, dass Menschen sich Sorgen machen. Krankheitszeiten sind in Deutschland nicht weniger geworden und damit auch bei uns nicht. Das kann man durchaus als Ausdruck von Erschöpfung deuten.
Der Seufzer, den ich immer wieder höre: "Oh, das nicht auch noch!" fasst das Alles gut zusammen.
Ein Rhodos-Urlauber sagte: "Wir haben uns darauf verlassen, dass alles gut ist!" Und dann kommt das lebensbedrohende Feuer! Was sagen Sie dazu?
Ich kann nachvollziehen, dass Menschen ‚Räume der Geborgenheit‘ suchen. Wir brauchen alle irgendwann Erholung. Als Dauerlösung ist die Fixierung auf den Jahresurlaub allerdings nicht geeignet. Wenn ich ein gutes Leben will, muss ich das, was ich auf Rhodos suche, im Grunde jeden Tag finden. Wenn ich im Bild gesprochen ‚Nur am Wochenende leben will‘, kann das auf Dauer nicht gut gehen.
Menschen, die wegen Burn-out behandelt werden: Diese Männer und Frauen glauben ja, man könnte alles schaffen und müsse nur irgendwann mal für sich sorgen. Das klappt so eigentlich nie.
Auch Personen, die in hoher Verantwortung sehr viel arbeiten, haben immer kleine Inseln: Das kann Musik sein, Sport, die Familie oder etwas Spirituelles. Da ist alles hilfreich, was mir das Gefühl der Entspannung oder Ruhe gibt. Joggen beispielsweise ist eine sehr gute Lösung. Das braucht jeder Mensch immer - nicht nur in Krisenzeiten.
Viele Menschen ziehen sich derzeit ins Private zurück. Verstehen Sie das?
Auf jeden Fall. Da habe ich am ehesten die Chance, mitzubestimmen, was passiert. Dort finde ich in der Regel Sicherheit und Vertrauen. Das Andere wissen wir aber auch: Wenn alle nur das Private suchen, geht es mit der Welt nicht weiter. Wenn sich niemand mehr, der es kann, in Partei, Kirche oder im Ehrenamt engagiert, wird es einfach kälter. Und zwar überall auf der Welt. Also nicht nur in Deutschland.
Zunehmend mehr Menschen folgen einfachen politischen Parolen. Hat der Psychiater in Ihnen dafür Verständnis?
‚Verständnis‘ wäre zu viel. Ich kann es nachvollziehen. "Schuld ist der!" Oder: "Wir brauchen nur das und das nicht. Dann wird wieder alles gut." Solche Lösungen sind nicht hilfreich. Wir sollten in Situationen, die mir Angst machen oder für die es noch keine Lösung gibt, uns austauschen, mit Experten sprechen…
Wir möchten auch glauben, dass es das Waschmittel gibt, das bei 30 Grad alle Flecken rausholt. Aber das gibt es nicht. Die einfache Lösung gibt es in der Regel nicht. Die Welt ist komplex. Wenn ich gute Lösungen finden will, muss ich das anerkennen.
Ihr Wunsch an Verantwortliche einerseits und an Otto-Normal-Bürger!?
Die Reingold-Studie trägt den Titel "Die Zuversicht der Deutschen". ‚Zuversicht‘ ist das, was wir brauchen. Je schwieriger die Umstände um mich herum sind, desto mehr brauche ich Zuversicht. Die zu verstärken oder zu entwickeln, das brauchen wir im Moment alle mehr als in früheren Zeiten. Dabei kann eben die Meditation helfen oder das Gespräch mit anderen, auch mit den noch lebenden Großeltern, die sich noch an den zweiten Weltkrieg und die Zeit danach erinnern. Alles, was Zuversicht fördert, ist wertvoll.
Und ich will das noch hinzufügen: Alles, was für unsere Patienten hier in der Klinik gut ist, ist auch gut für die Gesellschaft.
Pressemitteilung
Psychiater: „Zuversicht“ ist Schlüssel für Zukunft
Erschienen am:
31.08.2023
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