Behindert oder missbraucht?
Elisabeth AlbersDiemtar Kattinger
Im Auftrag des Landes-Caritasverbandes für Oldenburg hat unter anderem Elisabeth Albers, Oldenburger Diplom-Pädagogin sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, 14 Fachkräfte fitgemacht, die in unterschiedlichen Einrichtungen der Behindertenhilfe Mitarbeiter beraten können, wenn der Verdacht der Kindeswohlgefährdung besteht. Eine Form der Gefährdung kann der sexuelle Missbrauch sein.
Warum sind Kinder mit Behinderung besonders gefährdet, Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden?
Etwas Grundsätzliches vorweg: Wenn ein dreijähriges Kind ohne Behinderung auf Eltern trifft, die wenig Erziehungskompetenz haben, kann es sein, dass es dennoch genug Eigenkräfte entwickelt, um gut durchs Leben zu kommen. Trifft ein Kind mit Behinderung und seinen erhöhten Anforderungen an Versorgung, Erziehung und Hilfe aber auf Eltern mit nur geringen Fähigkeiten, um es gut zu erziehen, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Eigenkräfte des Kindes – seine Resilienz - nicht ausreichen, um weitere Schädigungen zu verhindern. Die Gefahr der Kindeswohlgefährdung in seinem ganzen Spektrum ist dann gegeben. Zur eigentlichen Frage: Sexueller Missbrauch hat nichts mit sexueller Attraktivität zu tun. Er beruht allein auf einem Machthintergrund. Es wird die eigene Macht, die eigene Position dazu benutzt, um sich über andere zu erheben. Die sexuelle Gewalt gegen Frauen, Mädchen und Jungen ist nicht der aggressive Ausdruck von Sexualität, sondern der sexuelle Ausdruck von Aggression, Feindseligkeit und Macht.
Das heißt, die Gefahr für behinderte Kinder ist höher, weil sie häufig ohnmächtiger sind …?
Genau. Die Chancen sich zur Wehr zu setzen, sind geringer, und es passiert schneller, dass jemand ihnen gegenüber in eine Machtposition kommt. Es gibt eine Studie in Amerika, die von einer Dunkelziffer ausgeht von 50 bis 70 Prozent. Das bedeutet – so diese Studie – dass von 100 Personen mit Behinderung 50 bis 70 sexuell missbraucht werden, ohne dass dieses überhaupt bekannt ist oder bekannt wird.
Gelten diese Zahlen auch für Deutschland?
Fachleute gehen in Deutschland von einer Dunkelziffer von 40 bis 50 Prozent aus. Das Risiko von Menschen mit Behinderung, Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden, muss somit als sehr hoch angesehen werden. Das muss nicht nur Kinder oder Jugendliche betreffen. Er findet ja durchaus auch im Erwachsenenalter noch statt. Generell kann man über den Beziehungszusammenhang von Tätern und Opfern sagen, dass 60 bis 70 Prozent aller Missbrauchsfälle im häuslichen, beziehungsweise im nahen sozialen Umfeld stattfinden.
Woran kann man erkennen, dass ein Kind mit Behinderung einen Missbrauch erlitten hat?
Es gibt nicht das eine Merkmal, an Hand dessen man das festmachen kann, sondern mehrere Hinweise. Solche Kinder fallen auf, weil sie sich sozial unangemessen verhalten, indem sie keine Distanz wahren, weil sie ständig sexuelle Reize aussenden. Oder weil sie ein „Lolita-Verhalten“ haben, das heißt sexuelle Signale aussenden in Folge selbst erlebter sexueller Grenzüberschreitung. Es kann sein, dass sie Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren. Es ist im Behindertenbereich deshalb so schwierig, exakt zu sagen „Dieses Kind ist betroffen oder nicht“, weil viele dieser Faktoren auch Folge der Behinderung sein können. Wenn man im Bereich nicht-behinderter Kinder auf Jungen oder Mädchen trifft, die ständig anderen um den Arm fallen, die ändere ständig küssen, dann hat man eher das Gefühl, hier stimmt etwas nicht. Bei behinderten Kindern hört man dann häufiger: „Och, ist der niedlich.“
Welchen Rat haben Sie den Seminar-Teilnehmern gegeben, welchen geben Sie Eltern? Wo sollten Alarmglocken läuten?
Wenn Eltern oder Mitarbeiter das Gefühl haben, es könnte auch sexueller Missbrauch vorliegen, dann sollten sie Fachberatungsstellen einschalten wie den Kinderschutzbund, Wildwasser oder das Jugendamt. Weil es so schwierig ist, lautet mein Rat, im Zweifelsfall lieber eine Fachberatungsstelle in Anspruch nehmen. Auf jeden Fall sollten die Mitarbeiterinnen nie ohne Fachkräfte des Jugendamtes Täter oder Täterinnen konfrontieren, weil dieses die Not des Kindes eher erhöht als hilfreich zu sein.
Das Interview führte Dietmar Kattinger am 16.09.2011