Zivilgesellschaftliches Engagement stärken
Dr. Frank Joh. Hensel begrüßt die Teilnehmenden und gibt eine Einführung in die Debatte um einen Sozialen Pflichtdienst.Foto: Pia Winkler
"Frage nicht, was dein Land für dich tun kann - frage, was du für dein Land tun kannst!" Mit diesem Zitat von John F. Kennedy leitete Dr. Frank Hensel, Sprecher der Caritasdirektor*innen von NRW, in die Debatte über das Für und Wider eines sozialen Pflichtjahres ein. Dazu waren am vergangenen Mittwochabend, 31. Mai 2023, rund 50 Mitarbeitende aus Caritasverbänden und -einrichtungen aus ganz NRW im Bildungshaus Kommende in Dortmund zusammengekommen, um auszuloten, welche Position die Caritas in dieser Diskussion vertritt. Denn die bislang innerverbandliche Ablehnung eines Pflichtjahres gerät seit den jüngsten politischen Richtungsentscheidungen und Stellungnahmen ins Wanken. Nachdem Bundespräsident Walter Steinmeier im Juni vergangenen Jahres Sympathien für einen sozialen Pflichtdienst geäußert hatte, schrieb sich auch die CDU auf ihrem Parteitag 2022 in Hannover ein "verpflichtendes Gesellschaftsjahr" in die Agenda.
Das Thema habe viele unterschiedliche Facetten, so Hensel, es werde diskutiert im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Verantwortung, Integration, Demokratieförderung, Fachkräftesicherung und vieles mehr. In der "Verbandsarena" sorgten dann Landtagsabgeordneter Marco Schmitz (CDU), die Freiwilligendienstleistenden Stella Stoiber und Leonie Melina Bretzing, BDKJ-Landesvorsitzender Max Holzer sowie Henric Peeters, Vorstandsvorsitzender des Düsseldorfer Caritasverbandes, und Dominik Hopfenzitz, Diözesan-Caritasdirektor im Bistum Münster für eine kontroverse Debatte.
Ein sozialer Plichtdienst bietet aus Sicht von Marco Schmitz MdL (links) die Möglichkeit, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Die Einführung wäre aus rechtlichen Gründen aber eine Wiedereinführung der Wehrpflicht geknüpft. BDKJ-Vorsitzender Max Holzer spricht sich ganz grundsätzlich für eine Stärkung der Freiwilligendienste aus. Finanzielle Zugangsbarrieren sorgen heute noch dafür, dass sich junge Menschen aus ärmeren Familien solch ein Engagement nicht leisten können.Foto: Pia Winkler
Während sich Schmitz, Sprecher für Arbeit, Gesundheit und Soziales der CDU-Landtagsfraktion, für den Pflichtdienst als Chance aussprach, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, wurde im Austausch mit dem Publikum deutlich, dass eine Mehrheit im Saal einen Pflichtdienst kritisch sieht. Ein kurzes Stimmungsbild ergab, dass 18 Anwesende strikt dagegen, nur acht dafür und 9 unentschieden waren. Schmitz stellte klar, dass die Einführung eines Gesellschaftsjahres an die Wiedereinführung der ausgesetzten Wehrpflicht geknüpft sei. Denn ein sozialer Pflichtdienst stehe dem völkerrechtlichen Verbot von Zwangsdiensten entgegen.
Caritasvorstand Peeters aus Düsseldorf verwies auf eigene Erfahrungen als Zivildienstleistender bei der Caritas: "Ich wäre nicht hier, wenn ich das nicht gemacht hätte." Insofern könne der soziale Dienst auch Sprungbrett für den Einstieg in einen sozialen Beruf sein - vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels sei es wünschenswert, mehr junge Menschen für soziale Berufe zu gewinnen, machte sich Peeters für den Pflichtdienst stark. Denn derzeit würden sich nur diejenigen freiwillig für ein soziales Jahr entscheiden, "die sowieso schon eine soziale Ader haben".
Henric Peeters (links) sieht einen Pflichtdienst, auch aus seiner eigenen Erfahrung heraus, als Sprungbrett in die sozialen Berufe und damit auch als geeignetes Werkzeug zur Beseitigung des Fachtkräftemangels. Diözesan-Caritasdirektor Dominik Hopfenzitz wiederum sieht die Aufgabe eines solchen Dienstes eher in der Förderung eines demokratischen Bewusstseins und Wertesystems.Foto: Pia Winkler
Diözesan-Caritasdirektor Hopfenzitz aus Münster wiederum stellte in Frage, ob die Beseitigung des Fachkräftemangels Ziel eines sozialen Pflichtjahres sein sollte. Das sei unfair gegenüber anderen Bereichen, in denen auch Arbeitskräftemangel herrsche. Entscheidend sei die Frage nach den dahinterstehenden Werten, wie zum Beispiel Förderung demokratischen Bewusstseins. "Es kommt nicht mehr zu einer Durchmischung der gesellschaftlichen Gruppen", wies Hopfenzitz auf eine Gefahr für die Demokratie hin. "Integration und Demokratie fördern - das erreichen wir nicht durch Freiwilligkeit", so der Caritasdirektor, "mich treibt die Frage um: Kriegen wir es hin, dass es in zehn Jahren keine AfD mehr gibt? Wie wollen wir das erreichen?".
"Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt erzwingen", sei kein probates Mittel, argumentierte Stephan Jentgens, Caritasdirektor für das Bistum Aachen, dagegen. "Das passt überhaupt nicht zur Haltung der Caritas." Überdies sei Zusammenhalt eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht allein auf die Jugend abgewälzt werden dürfe.
Marie Beimen, Bundessprecherin der Freiwilligendienstleistenden, kritisiert die Anrechnung des Taschengeldes auf das ALG II als eine klare Benachteiligung der Dienstleistenden aus einkommensschwachen Haushalten. Solche Zugangsbarrieren müssen dringend abgebaut werden.Foto: Pia Winkler
BDKJ-Vorsitzender Holzer warb für einen Perspektivwechsel: "Ein sozialer Dienst kann gesellschaftliche Separation nur überwinden, wenn das freiwillig und nachhaltig geschieht. Es müsste einen Rechtsanspruch geben." Die entscheidende Frage sei demnach: "Wie können wir die Freiwilligendienste stärken? Wie können wir junge Menschen darüber besser informieren?" Zunächst müssten dringend Zugangsbarrieren abgebaut werden: ein kostenloses ÖPNV-Ticket und eine bessere Bezahlung, damit auch junge Menschen aus ärmeren Familien sich ein freiwilliges soziales Jahr leisten können.
Marie Beimen, Bundessprecherin der Freiwilligendienstleistenden, berichtete von Fällen, in denen junge Menschen von ihrem geringen Taschengeld von maximal 438 Euro noch Essensgeld an die eigene Familie zahlen müssten, weil der Betrag nicht anrechnungsfrei sei. "Das ist eine soziale Ungerechtigkeit!" Sie forderte ein höheres an die Inflation gekoppeltes Taschengeld, orientiert am Bafög-Höchstsatz und warb für die Unterstützung einer Petition mit entsprechenden Forderungen an die Politik. Denn, so die Überzeugung von Beimen, es gebe viele Jugendliche, denen der Weg zu einem Freiwilligendienst verbaut sei. "Der Freiwilligendienst stärkt unsere Zivilgesellschaft und die Demokratie und es ist schade, dass nur privilegierte Menschen davon profitieren."
Einig waren sich alle Diskutierenden darüber, dass ein Freiwilligendienst in jedem Fall ein Gewinn sei - als Erfahrungsschatz und für die Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen ebenso wie für die Gesellschaft. "Ich bin froh, dass ich mich dafür entschieden habe und ich bin daran gewachsen", so die Freiwilligendienstleistende Stoiber, die derzeit ein Kind mit Förderbedarf durch den Schulalltag begleitet. Auch wenn sie jedem Menschen diese Erfahrung wünsche, könne niemand dazu gezwungen werden, sprach sich Stoiber gegen den Pflichtdienst aus. Ebenso Bretzing, die ihr FSJ in einem Wohnheim für behinderte Menschen absolviert. Nur wer sich freiwillig engagiere, würde seine Sache auch gut machen. "Zwang und Unterdrückung geht mit Ablehnung einher", pflichtete Beimen bei, "das stärkt unsere Zivilgesellschaft nicht, sondern schwächt sie".
Matthias Schmitten, Leiter des Zentrums Freiwilligendienste der Diakonie RWL, gibt einen fachlichen Input zur Debatte.Foto: Pia Winkler
Dass die junge Generation einen Pflichtdienst mehrheitlich ablehnt, bestätigte auch Matthias Schmitten, Leiter des Zentrums Freiwilligendienste der Diakonie RWL (die Präsentation zu seinem Vortrag finden Sie hier). Der Studie "Jugend in Deutschland" zufolge, sind unter den Befragten 14 bis 29-Jährigen nur 22 Prozent der jungen Männer und nur 11 Prozent der jungen Frauen für einen Pflichtdienst. Hinzu käme, dass derzeit auch gar nicht genügend Stellen vorhanden wären, um allen Schulabgängern ein entsprechendes Angebot zu machen. Überdies müsse berücksichtigt werden, dass bei Einführung des Pflichtdienstes den Unternehmen Auszubildende und an den Unis ein ganzer Abschlussjahrgang fehlen würde, so Schmitten. Die Umsetzung dauere mindestens fünf bis zehn Jahre und auf den Staat kämen jährlich 12 bis 20 Milliarden Euro Kosten zu, rechnete der Experte vor.
Die Teilnehmenden der Podiumsdiskussion: Moderator Tom Hegermann, Marco Schmitz MdL (Sprecher für Arbeit, Gesundheit und Soziales der CDU-Landtagsfraktion), Max Holzer (BDKJ-Landesvorsitzender), die Freiwilligendienstleistenden Stella Stoiber und Leonie Melina Bretzing, Henric Peeters (Vorstandsvorsitzender des Caritasverbandes Düsseldorf) und Dominik Hopfenzitz (Diözesan-Caritasdirektor für die Diözese Münster, von links).Foto: Pia Winkler
Wenn man jedoch bedenke, dass derzeit nur fünf Prozent der Schulabgänger in NRW sich für einen Freiwilligendienst entscheiden würden, sei noch viel Luft nach oben. Es komme darauf an, den Freiwilligendienst zu stärken, für ihn zu werben, Zugangsbarrieren abzubauen und ihn generationenübergreifend zu organisieren, so Schmitten. Derzeit betreue er jährlich rund 2.000 Freiwillige aus 69 Nationen im Alter von 15 bis 86 Jahren. "Einen Melting Pot bilden - das kann über Freiwilligendienste gut gelingen", betonte Schmitten.
Zum Ende der zweieinhalb Stunden dauernden Diskussion brachte es dieser Appell des Düsseldorfer Caritasdirektors Henric Peeters auf den Punkt: "Lassen Sie uns den Freiwilligendienst so attraktiv machen, dass wir keine Pflicht brauchen!"
Aktuell sammeln die Freiwilligen 50.000 Unterschriften, um ihre Petition in den Bundestag einzubringen. Mehr Informationen über die Vorhaben und die Petition finden Sie hier: online unter https://fwd-staerken.de