Neoliberale Attacke
Diözesan-Caritasdirektor Josef Lüttig bei der Pressekonferenz der Caritas in NRW auf der Pressefahrt zum Thema „Familie schaffen wir nur gemeinsam“.Christof Beckmann
Der Autor, Viktor Gojdka, nahm am 10.9. an der Pressefahrt der Caritas in NRW teil, bei der die Jahreskampagne des Verbandes "Familie schaffen wir nur gemeinsam" im Mittelpunkt stand. Die teilnehmenden Journalisten hatten dabei die Möglichkeit, Dienste kennenzulernen, die u. a. neue Ansätze der Hilfe für Familien in besonderen Lebenslagen verfolgen, z. B. durch den Einsatz ehrenamtlicher Familienpaten. Im Rahmen dieser Pressefahrt hat der Direktor des Caritasverbandes für das Erzbistum Paderborn, Josef Lüttig, die familienpolitischen Positionen der Caritas erläutert. In der folgenden Woche gab es noch einmal kurzen telefonischen Kontakt mit Herrn Gojdka zu zwei konkreten Fragen: Wie viele Mitarbeiter bei der Caritas in Nordrhein-Westfalen beschäftigt sind (laut Zentralstatistik 2010 188.000) und welche Dienste und Einrichtungen in Trägerschaft der Caritas in den vergangenen Jahren schließen mussten (u. a. Familienpflege Krefeld, jüngst Insolvenz der Caritas-Pflegedienste Ruhr).
In dem Beitrag wird den Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie mit polemischen Aussagen und einer kruden Argumentation vorgeworfen, sich zu riesigen Sozialkonzernen entwickelt zu haben, die von der Politik privilegiert und protegiert werden". Schon der Ausdruck "Konzern" ist irreführend und falsch.
Der Artikel bezeichnet die Caritas als den größten privaten Arbeitgeber in Deutschland. Hier geht der Autor fälschlicherweise davon aus, der Deutsche Caritasverband werde wie ein Konzern geführt. Der Deutsche Caritasverband ist ein Verband von Tausenden rechtlich selbstständiger Träger, die ihre Politik des Angebots sozialer Dienstleistungen eigenständig verantworten. Es gibt keine zentral gesteuerte Angebotspolitik von Seiten des Verbandes. Der Verband bemüht sich vorrangig um die Umsetzung seines Leitbildes, um gemeinsame fachliche Standards, Fragen der Qualitätssicherung und der Qualifizierung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das gilt im Übrigen für die fünf Diözesanverbände in NRW analog.
Es wäre sehr wünschenswert gewesen, wenn sich der Autor insgesamt intensiver mit dem Sozialstaatsprinzip und der Finanzierung der Freien Wohlfahrtspflege beschäftigt hätte. Möglicherweise wäre es dann gelungen, bestimmte Wertungen und Bilder zu vermeiden, die wenig hilfreich sind zum Verständnis der Arbeit von Caritas, Diakonie und anderer Wohlfahrtsverbände.
Stattdessen zitiert der Autor einen "Ökonomen", der den "mildtätigen Verbänden" Konzernstrategien vorwirft, mit denen sie "ihre Stellung am Markt" ausbauen wollten. Unterfüttert wird der Vorwurf durch die Behauptung, die Wohlfahrtsverbände würden "dafür sorgen, dass niemand anderes in ihren Geschäftsfeldern wildert. Privilegiert durch staatliche Zuschüsse, protegiert von der Politik in Nordrhein-Westfalen". Diese Behauptung geht meilenweit an der Realität vorbei.
Der zitierte Ökonom heißt Dominik Enste und hat 2004 im Auftrag des Instituts der Deutschen Wirtschaft eine als Studie bezeichnete Streitschrift verfasst, die schon damals einen teilweise veralteten Diskussionsbeitrag zum Wettbewerb sozialer Dienste mit dem reißerischen Vorwurf verband, die Wohlfahrtsverbände würden sich auf Kosten der Schwachen bereichern. Dieser Vorwurf war schon damals durch nichts belegt. Durch Wiederholung gewinnt er nicht an Plausibilität.
Die Träger der Freien Wohlfahrtspflege, unter ihnen die Caritas, stehen mit ihren Diensten und Einrichtungen bereits seit vielen Jahren in einem härter werdenden Wettbewerb untereinander und mit privatgewerblichen Anbietern. Dieser Wettbewerb war und ist politisch gewollt - und er wird weiter forciert. Es ist absurd, in diesem Zusammenhang von Privilegien durch staatliche Zuschüsse zu sprechen, ohne das in irgendeiner Weise belegen zu können.
Autor Gojdka führt daher als Beispiel die geltenden Regelungen der Kindergartengesetzgebung des Landes NRW an, gegen die offensichtlich ein privatwirtschaftlicher Anbieter juristisch vorgeht. Es wäre aufschlussreich gewesen, die Begründung des Gesetzgebers für diesen Passus des Kinderbildungsgesetzes zu recherchieren. (So heißt es in der Begründung zu dem Gesetz:
Die explizite Einbeziehung privat-gewerblicher Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht dient nicht der Erreichung der angestrebten Ziele des Gesetzesentwurfes.
Das Betreiben einer Tageseinrichtung mit realistischer Gewinnerwartung ohne staatliche Förderung allein aus den Elternbeiträgen setzt die Konzentration auf besonders einkommensstarke Zielgruppen voraus, die auch entsprechende Beiträge leisten können. In der Folge führt dies zu Segmentierungen und Diskriminierungen, die gerade nicht zu einer angemessenen Förderung aller Kinder und zur Überwindung von Benachteiligungen führen. Ein solcher Ansatz steht unseres Erachtens auch den sonstigen Bestrebungen des Landes NRW nach Integration entgegen.
Eine Förderung solcher Träger ist durch die übergeordneten Regelungen des SGB VIII ausgeschlossen (§ 74 Abs. 1 SGB VIII).
Es war also der Landesgesetzgeber, der für den Kindergartenbereich einen ordnungspolitischen Rahmen gesetzt hat, den er an politischen Zielen ausgerichtet hat. Man kann diese Ziele kritisieren, man kann die gesetzlichen Instrumente diskutieren, um dem Leser selbst eine Bewertung zu ermöglichen. Stattdessen schreibt der Autor dem Leser die Lesart vor: es gehe der Wohlfahrt darum, "ihre Vormachtstellung auf dem Kita-Markt auszubauen". Das nun ist nicht nur journalistisch schlechter Stil, sondern auch argumentativ schwach.
Weitere Fakten würden bei diesem Bild nur stören, deswegen lässt der Autor sie gleich besser weg: Die Caritasverbände in NRW haben zwischen 2002 und 2010 knapp 14 Prozent ihrer Kindertageseinrichtungen, Krippen und Horte geschlossen, sogar mehr als 16 Prozent der Plätze wurden abgebaut. Währenddessen ist die Gesamtzahl der Einrichtungen in NRW im Zuge des Ausbaus der U3-Betreuung sogar noch leicht angestiegen. Die Caritas verliert also Marktanteile - und zwar gewaltig. Und der Rückgang wäre sogar noch größer, würden nicht vielerorts Kommunen und Eltern händeringend für katholische Kindergärten kämpfen. Denn die wissen genau, dass private Tageseinrichtungen mit realistischer Gewinnerwartung entweder für die Eltern oder für die Kommunen und damit für die Steuerzahler erheblich teurer sind als gemeinnützige, wo beispielsweise der kirchliche Anteil an der Finanzierung bis zu 12 Prozent beträgt.
Pressegespräch mit Journalisten und Ehrenamtlichen in den Räumen des SkF Hagen zum Projekt Familienpaten.Markus Lahrmann
Doch was die Menschen wollen, interessiert auch den von der Welt am Sonntag befragten Ökonomen nicht. Sozialrechtlich spricht man vom Wunsch- und Wahlrecht: Wer jahrzehntelang in die Kranken- und Pflegeversicherung eingezahlt hat, darf selbst entscheiden, wessen Leistungen er in Anspruch nimmt, wenn er sie braucht. Er kann sich beispielsweise für ein privat geführtes Pflegeheim entscheiden, er kann aber auch in ein Caritas-Haus gehen. Dass dieses sich dann genauso aus den Pflegesätzen refinanziert, ficht Autor Gojdka nicht an, er nennt die Finanzierung "erstaunlich unchristlich". Eine solche Wertung ist erstaunlich unredlich.
Es sei also "vorrangig das Geld der öffentlichen Hand, das die kirchlichen Wohlfahrtsverbände ausgeben - und den Politikern abringen müssen", schreibt er. Und verbiegt so elegant die Fakten: Es sind die Versicherungsbeiträge der Beschäftigten, die die Anbieter in Verhandlungen mit den Kostenträgern für ihre Leistungen berechnen. Und, es muss an dieser Stelle wiederholt werden: auf der Anbieterseite stehen die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in Konkurrenz zu den anderen Wohlfahrtsverbänden und zu gewerblichen Anbietern. Dieser Wettbewerb wird über den Preis und über die Qualität des Angebots geführt und besteht seit Mitte der 90er Jahre.
Wo Fakten stören, werden sie weggelassen, notwendige Recherche wird durch Meinung ersetzt. So entsteht ein Bild der Wohlfahrtsverbände, das mit groben Pinselstrichen Privilegien, Protektion durch die Politik, Belastung "unserer Sozialkassen", Kungelei in den Jugendhilfeausschüssen, womöglich Korruption und Vorteilsnahme an die Wand malt. Frei nach dem Motto "kräftig mit Dreck schmeißen, irgendetwas wird schon hängen bleiben".
So erstaunt es nicht mehr, worüber der Autor nicht schreibt: über die Betroffenen, die Bedürftigen, die Benachteiligten. Hier geht es vorderhand darum, die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in ein schlechtes Licht zu rücken ("Wirtschaften also die barmherzigen Verbände auf Kosten der Steuerzahler?", fragt er rhetorisch). Doch das eigentliche Ziel ist ein anderes. Denn im Kern ist der Beitrag ein Angriff auf das bundesdeutsche Sozialstaatsprinzip. Trägervielfalt, Subsidiaritätsprinzip und Daseinsvorsorge sind Leitbegriffe dieses Prinzips, über das in der bundesrepublikanischen Gesellschaft immer noch ein großer Konsens besteht. (Selbst die kürzlich aus dem Bundestag gefallene FDP hatte diesen Konsens nicht grundsätzlich verlassen.)
Dabei sind selbstverständlich andere Sozialstaatsmodelle denkbar als das deutsche, man kann über das Für und Wider diskutieren und so werden ja auch beispielsweise in der europäischen Politik Argumente ausgetauscht. Zur Verdeutlichung seien hier (in Anlehnung an Wikipedia) der liberale Wohlfahrtsstaatstyp (Beispiel: USA), der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaatstyp (Beispiel: Schweden) und der rudimentäre Wohlfahrtsstaatstyp (Beispiel: Griechenland) genannt. Es ist keine Frage, dass man darüber streiten kann, aber dann doch gerne mit offenem Visier.
Mit seinen Wertungen und all seiner Polemik schreibt der Autor nämlich in Wahrheit gegen das deutsche Wohlfahrtsmodell an. Erst wenn man die gedanklichen Leerstellen seines Textes füllt, also nach Alternativen zu dem von ihm so kritisierten Wohlfahrtssystem fragt, wird klar: Er favorisiert offenbar einen Staat, in dem die notwendige Sozialleistungen einerseits durch und durch kommerzialisiert sind, andererseits ein Bodensatz an Bedürftigen auf die Almosen privater Wohltäter und Spendenorganisationen zurückgeworfen ist. Mit der christlichen Soziallehre, mit dem Subsidiaritätsprinzip und der Stärkung traditioneller Familienformen ist das nicht in Einklang zu bringen.