"Eine familiäre Notsituation kann jeden treffen"
Wenn ein Elternteil erkrankt und die Versorgung der minderjährigen Kinder nicht gewährleistet ist, springt die Familienpflege ein. Weil vor jedem Einsatz ein Ringen mit der Krankenkasse um die Finanzierung steht, sind immer mehr Träger in Nordrhein-Westfalen aus diesem Angebot ausgestiegen.Foto: Peter Wirtz, Dormagen
Caritas in NRW: Mit welchen Anliegen kommen Familien zum Familienpflegedienst?
Monika Steffen: Die Familien brauchen unsere Unterstützung, weil die Bezugsperson der Kinder erkrankt ist, also in der Regel Mutter oder Vater. Es geht darum, die Versorgung der Kinder und ihre altersgerechte Betreuung sicherzustellen, aber natürlich auch darum, den Haushalt weiterzuführen und Alltagsabläufe zu organisieren.
Brigitte Leyens: Ich möchte an einigen Fallbeispielen verdeutlichen, mit welch unterschiedlichen und oft dramatischen Anliegen sich die Menschen an uns wenden: Ganz aktuell haben wir eine Familie, in der die Mutter eine Krebserkrankung gut überstanden hatte, dann erhielt sie die Diagnose: doppeltes Aneurysma. Inzwischen liegt die Frau im Koma, im Haushalt leben zwei Kinder unter zwölf Jahren. Ein weiterer bewegender Fall war der einer Mutter, die an einem Gehirntumor erkrankt war. Wir haben die Töchter der Familie, neun und zwölf Jahre alt, betreut. Der Einsatz lief über eineinhalb Jahre, vom Beginn der Diagnose bis zum Tod der Mutter und darüber hinaus, bis der Vater sicher war, dass die Familie allein klarkommt. All diese Fälle eint, dass die Familienmitglieder oft überlastet und überfordert sind und Beistand benötigen von jemandem, der die Situation mitbegleitet und mitträgt. Eine Fachkraft bringt Beständigkeit und Zuverlässigkeit mit, die Kinder können durch uns in ihrem gewohnten Umfeld bleiben, das gibt ihnen Sicherheit, die wiederum bedeutet Schutz.
Andrea Gehrendes: Auch an uns wenden sich Familien, in denen Mütter beispielsweise an Krebs oder psychisch erkrankt sind oder die nach einer schweren Operation oder während einer Risikoschwangerschaft nicht belastbar sind.
Ich denke, dass es für die Familien wichtig ist, Menschen zu haben, die sie unterstützen, um den Kopf für wichtige Dinge frei zu haben. Dabei ist ein zuverlässiger Einsatz sehr hilfreich.
Caritas in NRW: Lassen Sie uns verschiedene Situationen und Einsatzfelder betrachten. Welche besonderen Anforderungen bestehen?
Brigitte Leyens: Bei dem oben beschriebenen Fall der an Krebs erkrankten und später verstorbenen Mutter stand an erster Stelle der Umgang mit Krankheit, mit Trauer, mit Tod. Die Mitarbeiterin hat die Familie während der verschiedenen Phasen begleitet, von der Hoffnung bis zum Verlust, zur Trauer- und Abschiedsphase. Trotz der Schwere dieser Themen musste sie den Kindern einen normalen Alltag ermöglichen, ihnen eine Alltagsstruktur schaffen. Sie sollten zur Schule gehen können, sich mit Freunden treffen und Hobbys pflegen, sie sollten nicht in eine Verantwortung kommen, die sie nicht tragen können.
Andrea Gehrendes leitet den Familienpflegedienst der Caritas in Brakel im Kreis Höxter.Foto: Karl-Martin Flüter/Caritasverband Höxter
Andrea Gehrendes: Wir haben aktuell einen Einsatz, der bereits über eineinhalb Jahre läuft. Die Mutter ist psychisch erkrankt, war zunächst in der Psychiatrie, später in der Tagespflege. In dieser Familie ist unsere Mitarbeiterin acht Stunden am Tag und noch länger gefragt, da der Vater voll berufstätig ist und zusätzlich Fahrzeiten zum Arbeitsplatz hat. Da geht es darum, alle Beteiligten zu unterstützen, das Leben der Familie im Blick zu haben, Normalität zu bewahren, gemeinsame Rituale zu erhalten, wie abendliches Vorlesen, gemeinsames Kochen oder Ähnliches.
Monika Steffen: Ein weiteres Tätigkeitsfeld sind die sogenannten HOT-Einsätze, die HaushaltsOrganisationsTrainings. Oft kommt es erst zu einem HOT-Auftrag des Jugendamtes, wenn die Situation in der Familie bereits äußerst prekär ist. Den Betroffenen gelingt es aus eigener Kraft nicht, die Versorgung ihrer Kinder und des Haushaltes sicherzustellen. Die Wohnungen sind oft vermüllt und in einem desolaten Zustand. HOT knüpft an die äußerst rudimentären Ressourcen der Familien an und orientiert sich an kleinschrittigen Zielen, die gemeinsam vereinbart werden. Beispielsweise, dass der Kühlschrank immer voll ist. Da werden Wochenpläne gemacht, etwa: Heute wird eingekauft, morgen Wäsche gewaschen, übermorgen werden Böden gewischt.
Diese Einsätze werden von einer HOT-Fachkraft ausgeführt. Oft möchten die Familien von sich aus gar keine Unterstützung, sondern sie wird ihnen vom Jugendamt auferlegt, etwa bei Kindeswohlgefährdung, dann sind sie auch nicht kooperativ, dadurch wird der Aufbau einer Vertrauensbasis erschwert.
Caritas in NRW: Was sind die größten Herausforderungen?
Monika Steffen: Die Familienpflegerinnen müssen in kürzester Zeit - oft ohne eine Übergabe - in der Lage sein, einen fremden Haushalt zu führen und Kontakt oder im besten Fall eine gute Beziehung und eine Vertrauensbasis zu den Kindern herzustellen.
Brigitte Leyens leitet den Familienpflegedienst beim Caritasverband für Aachen-Stadt und Aachen-Land.Foto: Privat
Brigitte Leyens: Eine große Herausforderung besteht darin, sich immer wieder auf neue Situationen einzustellen. Jede Familie ist anders, hat andere Probleme und Bedürfnisse. Die Familienpflegerin bekommt tiefe Einblicke in persönliche Lebenssituationen und muss damit umgehen können.
Andrea Gehrendes: Außerdem ist es wichtig, vorurteilsfrei in die Familien zu gehen und deren Werte zu akzeptieren. Das erfordert einen professionellen Umgang mit Nähe und Distanz.
Caritas in NRW: Warum ist es wichtig, dass Fachkräfte mit dreijähriger Ausbildung zum Einsatz kommen?
Andrea Gehrendes: Von den Mitarbeiterinnen ist selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln gefragt. Je nach Einsatzschwerpunkt geht es um die Vertretung, Unterstützung oder Anleitung der für den Haushalt verantwortlichen Person in hauswirtschaftlichen, erzieherischen oder pflegerischen Bereichen mit einem ganzheitlichen Ansatz.
Brigitte Leyens: Ja, die Arbeit in den besonders belasteten Familien macht einen ganzheitlichen Blick auf das System erforderlich. Diese Kompetenzen sind nur mit der dreifachen Qualifikation aus Pädagogik, Pflege und Hauswirtschaft zu leisten. Außerdem erfordert die Arbeit hohe Belastbarkeit und Flexibilität. Wenn man nicht gelernt hat, damit umzugehen, besteht die Gefahr der Überlastung mit gesundheitlichen Folgen für die Mitarbeiterin - das trägt sicher nicht zur Stabilisierung der Familie bei.
Caritas in NRW: Welche Hürden gibt es für Familien, Leistungen zu beantragen?
Brigitte Leyens: Den Antrag auszufüllen, ist nicht sehr schwierig. Aber die Bewilligung durch die Krankenkasse zu bekommen, ist oft zermürbend und mühselig. Wird ein Antrag abgelehnt, ist der notwendige Kraftakt oft zu hoch, um in die Auseinandersetzung zu gehen. Außerdem kann es schwierig sein, die passende Hilfe zu finden. Manchmal müssen Betroffene zehn Dienste anrufen, um jemanden zu finden. Der Bedarf ist weit höher als das Angebot.
Andrea Gehrendes: Ärzte wissen oft gar nicht von der Familienpflege und kennen das Prozedere nicht, oder sie fürchten, dass der Einsatz zulasten ihres Budgets geht. Auf der anderen Seite sehen sich die ohnehin schon belasteten Familien großen Hürden gegenüber: Die Sachbearbeiter der Krankenkassen versuchen oft, sie zu überreden, sich Nachbarschaftshilfe oder Unterstützung aus der Familie zu suchen. Ein Antrag auf Befreiung vom Eigenanteil wird möglicherweise als kompliziert empfunden, löst Scham aus, das Gefühl, Bittsteller zu sein.
Caritas in NRW: Was ist Ihre Zukunftsvision? Wo sehen Sie die Familienpflege in fünf Jahren?
Monika Steffen leitet die Familienpflege beim Caritasverband im Rhein-Kreis Neuss.Foto: Privat
Monika Steffen: Ich bin sehr zuversichtlich, dass das Angebot auch in den kommenden Jahren aufrechterhalten werden kann. Ich bin von der Wirksamkeit der Unterstützung überzeugt, die wir Familien in prekären Lebenssituationen bieten können. Der Bedarf ist hoch. Aus meiner Erfahrung weiß ich: Es kann wirklich jeden treffen, in eine familiäre Notsituation zu kommen.
Brigitte Leyens: Ich sehe das etwas anders: Wenn weiterhin keine dauerhaft gute Kostenregelung von allen Seiten geschaffen wird, hat die Familienpflege in der jetzigen Struktur wenig Zukunft. Krankenkasse, Jugendamt und Kirche müssen an einem Strang ziehen.
Meine Vision wäre, dass Familien mit einer hohen Belastung weiterhin einen gesetzlichen Anspruch hätten, der eine beständige Begleitung beinhaltet. Die erforderliche Fachlichkeit muss sichtbar sein und sich in der Finanzierung abbilden. In der Caritas stehen die Verantwortlichen für das Wohl der Familie ein. Krankenkassen, Verbände und Jugendämter müssen klare Entscheidungen treffen.
Andrea Gehrendes: Meine Hoffnung wäre, dass die Zustimmung auf Kostenübernahmen durch die Krankenkassen per Attest gegeben ist.
Die Interviews führte Ulrike Flenskov.
Was muss geschehen, damit Familienpflege Zukunft hat? Mit dieser Frage beschäftigte sich eine Konferenz von Träger- und Leitungsvertretungen von Familienpflegediensten der Caritas in NRW in Aachen. Prof. Dr. Andreas Wittrahm, Leiter des Bereichs Facharbeit und Sozialpolitik beim Caritasverband für das Bistum Aachen, erinnerte daran, dass im Jahr 2009 sieben regionale Caritasverbände im Bistum Aachen als Träger von Familienpflegediensten und der DiözesanCaritasverband ein Projekt aufgelegt hätten, um auszuloten, wie Familienpflege zukunftssicher aufgestellt sein müsse. Zehn Jahre später habe dieses Projekt nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil: Familienpflegerinnen seien die Profis für das Aufrechterhalten von Familienalltag, wenn ernste Erkrankungen und Krisen die Familien überschatten und überfordern würden. Dieser Dienst sei vor allem im Interesse der Kinder. Der Bedarf sei zunehmend. Wittrahm listete als Gründe für den Einsatz der Familienpflege psychische Erkrankungen, Krebsdiagnosen, Krisen aufgrund prekärer Lebensverhältnisse, Trennung und Scheidung auf. Die Familienpflege erfreue sich aufseiten der Familien nach wie vor einer hohen Wertschätzung. Allerdings sei sie in einigen Teilen des Landes so deutlich unterfinanziert, dass die Existenz vieler Dienste gefährdet sei. Die Träger und Leitungen der Dienste machten deutlich, dass Dumpingpreise mit einem verantwortlichen Umgang mit Familien in Notsituationen nicht vereinbar seien. Eine gemeinsame Offensive in NRW für eine leistungsgerechte Finanzierung der Familienpflege sei notwendig.
Christian Heidrich